Soviel Teilnehmer hatte das seit 2009 regelmäßig im November stattfindende psychiatrisch-religionswissenschaftliche Colloquium noch nicht erlebt: über 110 Teilnehmer waren der Einladung zum Thema „Außergewöhnliche psychische Zustände und religiös fundierte Heilmethoden in vormodernen Kulturen und in der aktuellen Psychiatrie“ in die Holzlaube der FU Berlin gefolgt.
Dr. Norbert Mönter vom Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit e.V vermutete in seiner Begrüßung und kurzen Einführung als Grund neben den renommierten Referenten vor allem die herausfordernde Thematik des Colloquiums im Grenzbereich der modernen Psychiatrie. Dabei seien bei genauerer Betrachtung „außergewöhnliche psychische Zustände“ wie auch „religiös fundierte Heilmethoden“ Themen des psychiatrischen Alltags und das nicht nur im Kontext einer wachsend durch Migration aus z.T. vorindustriellen Ländern geprägten Gesellschaft.
Es gehe hintergründig um die weitergehende medizinisch-psychologisch-anthropologischen Frage, wieviel Ritual, wieviel Suggestion, wieviel Magie oder Beschwörung (oder gar Schamanismus) der Mensch brauche resp. suche, insbesondere wenn er krank werde.
Prof. Susanne Gödde ging als Leiterin des Religionswissenschaftlichen Institutes, welches die Ausrichtung des Colloquiums in der FU erneut ermöglichte, auf die Frage ekstatischer Zustände ein, wie sie sich mit dem Dionysioskult der Antike verbinden und zeichnete damit den direkten Weg in die nachfolgenden Vortragsthemen auf.
Prof. Hartmut Zinser, langjährig prägend am Religionswissenschaftlichen Institut der FU tätig, schilderte in seinem Vortrag „Ekstase, Besessenheit, Trance – Zur Faszination an ekstatischen Kulten in der Moderne“ die übereinstimmenden Merkmale schamanistischer Seancen, wie Zustände der Trance oder Besessenheit herbeigeführt werden, dass Drogen eine Rolle spielen können, aber nicht per se dazugehören. In dem auch mit Eindrücken eigener Feldforschung in entsprechenden Veranstaltungen gespickten, wissenschaftlich aufbereiteten und spannenden Vortrag unterstrich Zinser dann den Unterschied der jeweiligen gesellschaftlichen resp. auch motivationalen Hintergründe schamanistischer Rituale und der dadurch ausgelösten „altered states of consciousness“.
Schamanismus wurde seit der russischen Eroberung Sibiriens beobachtet und darüber auch berichtet. Seit ca. 100 Jahren wird der Begriff auf zahlreiche Ekstase- und Besessenheitskulte aus fast allen Regionen der Welt verallgemeinert. Zinser wies vor allem auf die Unterschiede zwischen dem traditionellen Schamanismus mitsamt dem dazugehörigen gesellschaftlichen Krankheitsverständnis und den Gegebenheiten des Neo-Schamanismus hin.
So war in Sibirien eine Ekstase vor allem den Schamanen zugänglich, in den modernen Kultveranstaltungen soll sie von allen erlangt werden können. Während im sibirischen Schamanismus eine Geisterbesessenheit eher gefürchtet wird, werden ekstatische Zustände im Neo-Schamanismus von den Beteiligten gesucht.
Zinser, Mitglied der seinerzeitigen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu „Sogenannten Sekten und Psychogruppen“, machte deutlich, dass die Teilnehmer moderner schamanistischer Veranstaltungen in der Ekstase dem Alltag entrinnen und einen Zugang zu einer Transzendenz erlangen wollen. Von Heilung sei zwar durchaus auch die Rede und werde in den Ankündigungen versprochen, aber dabei gehe es nicht um bestimmbare Krankheiten, sondern eher eine allgemeine Heilung der Natur und des Umgangs mit der Natur und des Menschen mit sich selber. Nur sehr kurz konnte Zinser auf religiöse Interpretationen von veränderten psychischen Zuständen eingehen. Hier bleibt nichts, als auf seine bekannten Veröffentlichungen hinzuweisen (Der Markt der Religionen 1997, Glaube und Aberglaube in der Medizin 2000, Esoterik 2009).
Auch die nachfolgenden Vorträge von Prof. Hans Jorg Assion aus der LWL-Klinik in Dortmund über die „Heutige Bedeutung traditioneller Heilvorstellungen in islamisch geprägten Kulturen“ und von Prof . Samuel Pfeifer aus Basel zum Thema „Religionssensibler therapeutischer Umgang mit Dämonenglaube und Okkultismus“ fanden gespanntes Interesse.
Von beiden Referenten liegen die Vortragsfolien vor, so dass auf nähere Ausführungen verzichtet wird:
Vortrag Prof. Assion hier und Vortrag Prof. Pfeifer hier.
Zum Vortrag von Prof. Pfeifer wird darüber hinaus auch auf dessen sehr instruktive Homepage hier verwiesen.
Frau Elif Alkan vom Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit stellte dann noch die Zwischenergebnisse des PIRA-Projektes mit den Beratungszahlen, den Diagnosen und Problemstellungen sowie den geleisteten Hilfestellungen vor.
(Wir berichteten über die PIRA-Auftaktveranstaltung am 26.1.2016 in der Şehitlik-Moschee hier)
Es sind eine türkische und bislang 3 arabische Moscheen einbezogen. Hierzu wird demnächst umfangreicher informiert werden. Frau Alkan hatte die Ergebnisse auch bereits auf einem Poster des Weltkongresses für Psychiatrie im Oktober vorstellen können.
Die das Colloquium abschließende Diskussion unter der Moderation von Frau Prof. Christine Funk war trotz der schon langen Veranstaltungsdauer ausgesprochen lebhaft und fand auch noch intensiven Nach- und Ausklang bei Wasser, Wein und wieder lukullischen Angeboten der „Eßkultur“.
Die Einladung mit dem Programm des Colloqiums finden Sie hier.
PIRA Projekt-Flyer zum Download finden Sie
hier (deutsch/türkisch)
hier (deutsch/arabisch)
(Autor: Dr. N. Mönter)
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