Fachtagung „Umgang mit Religion und spirituellen Bedürfnissen in Psychiatrie und Psychotherapie“ am 25.9.2010 im Bonhoeffer-Haus, Berlin

Welche Bedeutung haben Religion und Spiritualität in der Psychiatrie?
Zu dieser Fragestellung veranstaltete der Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit am 25.9.2010 eine Fachtagung im Bonhoeffer-Haus in Berlin-Mitte.
In der Vergangenheit waren bereits Tagungen zu diesem Thema im Harnack-Haus ( 2006; Tagungsband), in der Urania (2008) sowie die Bildung eines Runden Tisches „Religion und Psychiatrie“ (2008) durch den Verein initiiert worden.

In mehreren Eingangsstatements wurde dabei zunächst aus verschiedener Perspektive auf die Frage eingegangen, warum bei bestimmten Patienten ein besonderes Wissen über Religionen und Weltanschauungen von Bedeutung ist.

Frau Hadice Ayhan, die ihre psychiatrische Weiterbildung in der Allgemeinpsychiatrie einer großen städtischen Berliner Klink absolviert hat, wies auf den ausgeprägten Handlungscharakter des Islam hin. Dabei gebe es keine Aufteilung in sakrale und profane Lebensräume, der Islam bestimme das gesamte Leben eines Moslems. Krankheit und Leiden werden im Islam als Prüfung Gottes verstanden. Deshalb werde von islamischen Patienten zuweilen vor dem Arzt zunächst ein Hodscha zur Behandlung einer Erkrankung aufgesucht. Manchmal erfolge eine religiös spirituelle Behandlung auch neben der ärztlichen Therapie und könne sich im Einzelfall durchaus ergänzen. Häufige praktische Fragen seien der Umgang mit den Gebets- und Fastenregeln im Falle einer Krankheit. Hierbei seien Kranke ausdrücklich von den Fastenregeln ausgenommen, so dass es z.B. auch Medikamente während des Tages eingenommen werden können.

Anschließend sprach Frau Alma Fathi, eine Religionswissenschaftlerin, die in einer Eltern-Betroffenen-Initiative (EBI= Eltern-Betroffenen Initiative gegen psychische Abhängigkeit und für geistige Freiheit) Sektenaussteiger oder Angehörige von Mitgliedern konfliktträchtiger religiöser Gruppierungen betreut. Frau Fathi betonte, dass es wichtig sei, die Bedeutung der Religion für die betreffende Person in Erfahrung zu bringen. Eine Sektenmitgliedschaft führe nicht bei jedem Menschen zu psychischen Störungen. Oft entscheide eine zusätzliche psychische Disposition darüber, ob sich eine solche Zughörigkeit schädlich auswirke oder zur Stabilisierung einer zuvor bestehenden psychischen Labilität führe. Sie berichtete von einer jungen psychosekranken Frau, deren Stimmenhören innerhalb ihrer esoterischen Guru-Sekte als Gespräch mit dem Meister gedeutet und verstärkt wurde.

Es folgte Frau Dr. Rommelspacher, eine Berliner Psychiaterin und Psycho-analytikerin, die über ihre Erfahrungen als Mitglied der Arbeitsgruppe Buddhismus und Psychotherapie der buddhistischen Akademie Berlin berichtete. Nach ihrer Einschätzung haben Patienten neben ihrem Wunsch nach therapeutischer Begleitung oft das Bedürfnis nach „Religio“ im Sinne von C.G. Jung mit dem Wunsch nach einer Rückbindung an etwas Größeres.
Diese Patienten wünschen sich in ihrem spirituellen Weg ernst genommen zu werden. Auf den Therapeuten kann dabei der Wunsch nach einem Führer auf dem buddhistischen Weg übertragen werden, was zu Schwierigkeiten in der therapeutischen Beziehung führen kann. Zur buddhistischen Praxis zählen verschiedene Meditationsformen. Inzwischen ist die im Buddhismus bedeutsame Vorstellung der Achtsamkeit in zahlreiche Therapieformen übernommen worden. Allerdings kann eine intensive Meditationserfahrung z.B. in ein- bis mehrtägigen sogenannten „retreats“ bei entsprechend disponierten Menschen durch Aktivierung von unbewussten Vorstellungen zu einer Verstärkung von Ängsten und anderen psychischen Symptomen führen. Meditation ist eine oft hilfreiche Methode. Sie ersetze aber nicht eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung bei gravierenden psychischen Problemen, was oft in einer Übererwartung an die Methode erhofft wird. Es gebe auch Patienten, die depressiv reagieren, weil sie den oft falsch verstandenen Zielsetzungen des Buddhismus nicht zu entsprechen meinen. Auch hier sind neben therapeutischer Erfahrung Kenntnisse des buddhistischen Denkens erforderlich, um solche übertriebenen und irrigen Vorstellungen erkennen und korrigieren zu können.

Als letzter Redner der einleitenden Statements kam mit Herrn Dr. Beelitz ein Theologe und Pastoralpsychologe mit Betrachtungen aus der Sicht eines Krankenhausseelsorgers zu Wort. Nach seinen Erfahrungen gehe die Inanspruchnahme des Seelsorgers fast immer vom Patienten aus. Häufige Themen seien religiös wahnhaftes Erleben und depressive Zustände. Religiosität und Spiritualität beschreiben sich gegenseitig weit überlappende Phänomenbereiche, die unscharf abzutrennen sind. Dem trägt der pastoralpsychologische Ansatz der Ambiguitätstoleranz im Hinblick auf die Lebensbegründung und Weltanschauungsfundierung Rechnung mit der Vorstellung, dass alles auch ganz anders sein kann.
Krankenhausseelsorge ist nicht mehr die Betreuung von gläubigen Menschen an einem anderen Ort, sondern sie versteht sich als Teil einer gemeinsamen Bemühung, die subjektive Zufriedenheit und Lebensqualität von Patienten zu verbessern. Dem entsprechen angestrebte und die in einigen Einrichtungen teils verwirklichte Zusammenarbeit von Psychiatern und Krankenhausseelsorgern, u.a. mit gemeinsamen Fallbesprechungen. Herr Dr. Beelitz forderte zu einem besseren Wahrnehmen und Respektieren von religiöser Selbsthilfe auf. Außerdem befürwortete er eine Verbesserung der Kommunikation und Kooperation der beteiligten Berufsgruppen unter Einbeziehung des Krankenhausseelsorgers im Sinne einer Koexistenz unterschiedlicher Heilungssemantiken.
Dabei kann der Krakenhausseelsorger einerseits Verstehensangebote für religiöse Themen des Patienten bieten und andererseits Verstehensangebote mit Hilfe und an Hand von religiösem Material einbringen.

Dr. Irmel Rommelspacher, Dr. Christian Spaemann

Im ersten Hauptreferat trug Herr Dr. Spaemann, Chefarzt der Klinik für seelische Gesundheit in Braunau am Inn, Gedanken zum professionellen Umgang mit dem religiösen Patienten vor. In seinem inhaltsreichen und lebendigen Vortrag ging Dr. Spaemann zunächst auf die Frage nach den Gründen ein, die zu einem wachsenden Interesse an den Themen Religion und Spiritualität geführt haben. Dabei nannte er als Ursache einerseits eine gewisse Enttäuschung an der oft mit Übererwartungen verbundenen Psychotherapie. Daneben stellte er das Fehlen des für die seelische Gesundheit wichtigen Aspektes der Selbsttranszendenz und das Fehlen existenzieller Begriffe wie Liebe Tod, Verzeihen und Schuld in den Sachverzeich-nissen psychotherapeutischer Lehrbücher fest. Nach seiner Überzeugung ist das Bewusstsein dafür gestiegen, dass die großen spirituellen Traditionen der Menschheit Wichtiges über die Seele zu sagen haben und es hilfreich sein kann, an diese Vorstellungen anzuknüpfen.
In anthropologischer Sicht könne man sich der religiös-spirituellen Dimension des Menschen in verschiedener Weise nähern: in existentialistischer Weise als Geworfensein (Heidegger), das Leben als Aufgabe oder spirituell als Geheimnis oder eben im religiösen Sinn als Innewerden des Absoluten und dem konkreten Handeln in diesem Bewusstsein.
Zu unterscheiden seien dabei verschiedene Aspekte der Religion, wie die institutionelle Religion, die persönliche Religiosität und die Art des Götterbildes (z.B. gütig oder strafend).

Für das Handeln der im Gesundheitswesen Tätigen sei Religion zunächst unter der Ressourcensicht zu begrüßen als Möglichkeit, Leid eines Menschen zu lindern, wobei je nach Profession unterschiedliche Möglichkeiten bestehen. Als Beispiele nannte er: die Förderung der Leidensfähigkeit, die Stützung durch Gebote und Rituale und das Einfügen des eigenen Leides in einen größeren Sinnzusammenhalt. Weitere Aspekte sind die Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu anderen, Hoffnung, Glaube, Sinn und Bedeutung.
Der Psychotherapeut müsse sich bezüglich religiöser Themen seiner Rolle bewusst sein. Seine Aufgabe sei es, die spirituelle Dimension des Patienten wahrzunehmen und zu achten. Er habe sich auf aktuelle und lebensgeschichtliche Konflikte des Patienten zu konzentrieren und sich nicht dazu veranlasst zu fühlen, mit dem Patienten religiöse Fragen klären zu wollen. Bei ausgeprägten religiösen oder weltanschaulichen Vorstellungen könne es wichtig sein, sich über die Inhalte dieser Anschauungen und deren Bedeutung für den Patienten zu informieren.
Das bedeute, dass der Therapeut in der Regel entsprechend seiner methodischen Kenntnisse und Überlegungen unter Einbeziehung der religiösen Dimension seines Patienten verfahre.

Als spezielle auf spirituelle Erfahrungen gründende Therapien können Formen der Achtsamkeitstherapie z.B. nach Linehan und die Logotherapie nach Frankl mit Aspekten der Wert- und Sinnfindung angesehen werden.
Kritisch zu sehen seien dagegen Formen wie die Hagiotherapie oder inner healing, die mit direkter spiritueller Praxis arbeiten.
In der Psychiatrie ist die spezielle mögliche Religionspathologie, z.B. in der Form von Versündigungswahn oder religiösem Wahn zu berücksichtigen. Dementsprechend sei hier das Vorgehen des Therapeuten eher pragmatisch, vielleicht manchmal auf Grund besonderer Umstände auch direktiv, aber immer unter der Beachtung der generellen Respektierung des religiösen und spirituellen Erlebens des Patienten.

Der zweite Hauptvortrag von Dr. Michael Utsch beschäftige sich mit der speziellen Frage der Einbeziehung oder des Ausschlusses spirituell- religiöser Interventionen in die Behandlung psychisch kranker Patienten.
Herr Dr. Utsch führte verschiedene medizinische Bereiche an, in denen Religion und Spiritualität in der Medizin als Bewältigungshilfen angesehen werden: z.B. in der Geriatrie, der Palliativmedizin und der Onkologie.
Auch die Psychotherapie habe sich in verschiedener Weise dieser Thematik angenommen, z.B. im Rahmen der Resilenzforschung, im Begriff der positiven Psychologie und in der Übernahme von Meditationsformen und Einbezug des Achtsamkeits- Konzeptes, sowie in der Nutzung von Entspannungstechniken bis zur transpersonalen Verhaltenstherapie.
In Deutschland gebe es eine wachsende Zahl an Angeboten spiritueller Psychotherapie. (z.B. transpersonale Therapie in den Oderberg-Kliniken, christlich akzentuierte Behandlungen in der de Ignis Klinik). Dabei können religiöse oder spirituelle Gemeinsamkeiten von Patient und Therapeut einen zusätzlichen geistigen Verständigungsraum ermöglichen.
Die Bedeutung spiritueller Praxis werde durch eine Reihe von Studien belegt. Nachgewiesen wurden Heileffekte durch einen persönlich adaptiertem Glauben, durch ein sinnvolles geschlossenes Weltbild, die Eingebundenheit in eine Gemeinschaft, der Gewinn an Trost, Hoffnung und Gelassenheit und eine Verbesserung im Umgang mit dem Gefühl von Hilflosigkeit.
Die Kerntugenden aller Religionen beinhalten ein hohes therapeutisches Potential: Weisheit, Mut, Liebe, Gerechtigkeit, Mäßigung, Transzendenz.

Das international eingesetzte Diagnosesystem DSM (diagnostisches und statistisches Manual) habe inzwischen an Kultursensibilität gewonnen und stufe Religion und Spiritualität nicht mehr per se als pathologisch ein.
Die Bedeutung von Religion und Spiritualität als Bewältigungsressource und Gesundheitsprophylaxe und die Notwendigkeit des Einbezugs von Spiritualität bei der Bewältigung existentieller Krisen und von traumatischem Stress sei allgemein anerkannt.

Für die Zukunft wünschenswert sei eine offenere Gesprächskultur unter Psychotherapeuten zu den Fragen: was liefert Hoffnung, Vertrauen, Sinn.
Die eigene Spiritualität der Psychotherapeuten, ihre eigene Werte und Ziele müssten verstärkt reflektiert werden und wie sich ihre eigenen Einstellungen auf die Behandlungspraxis auswirke.
Zum professionellen Umgang von Psychotherapeuten gehören das Erkennen von spirituell- religiösen Gesprächsthemen und die Wahrnehmung der Bedeutung dieser Themen und natürlich die Wahrung der therapeutischen Distanz.
Als Voraussetzung für die Möglichkeit des Einbezuges solcher Themen in die Therapie forderte Dr. Utsch dazu auf, bei der Anamneseerhebung folgende Aspekte zu erfassen und zu berücksichtigen:

S = Spirituelle und Glaubens-Überzeugungen
P = Platz und Einfluss, den diese Überzeugungen im Leben des Patienten einnehmen
I = Integration in eine spirituelle, religiöse oder kirchliche Gruppe?
R = Rolle des Arztes/Therapeuten: Wie soll mit den spirituellen Erwartungen und Problemen des Patienten umgegangen werden?

In der nachfolgenden Diskussion ging es um die Bedeutung der spirituell-religiösen Anamnese: warum sie so selten erhoben wird und wie man diese Situation verbessern könne. Es wurde vorgeschlagen, Fragen zur religiösen Einstellung mit auf einen vom Patienten auszufüllenden Anamnesebogen aufzunehmen. Klinisch tätige Kollegen vertraten die Meinung, dass in vielen psychiatrischen Krankheitssituationen die Ausprägung der Symptomatik für solche Themen zunächst keinen Raum lasse. Oft stehen zu sehr aktuelle Symptome, Konflikte oder psychosoziale Belastungen im Vordergrund. Es wurde die Meinung vertreten, die Erhebung einer psychiatrisch-spirituellen Anamnese rühre an sehr persönliche Haltungen und Einstellungen und setze eine schon entstandene Beziehung zwischen Arzt und Patient voraus.

Erörtert wurde auch, in welcher Weise der Therapeut das Wissen über die religiöse Einstellung des Patienten nutzen könne. Dabei bestand Übereinstimmung, dass die Bedeutung der Religion für den Einzelnen sehr unterschiedlich sein könne: als Möglichkeiten wurden genannt: Stütze, Identifikationsmöglichkeit, Abwehr oder auch Ausdruck von Gruppendruck. Es wurde auf das Phänomen hingewiesen, dass Patienten, die an einem religiösen Wahn leiden, sich nach Abklingen des Wahns als ganz areligiös präsentieren.
Im weiteren Verlauf der Diskussion ging es um positive Erfahrungen mit religiösen Überzeugungen und religiöser Praxis als positive Verstärkung oder als Ressource.
Dabei wurde auf die Bedeutung unterschiedlicher Rollen im Verhältnis zum Patienten hingewiesen. So kann sich z.B. eine Krankenschwester gegenüber den religiösen Vorstellungen einer Patientin anders verhalten (z.B. trösten, zusammen beten) als es mit der Rolle des Arztes vereinbar ist.

Gemeinsam formuliert wurde der Wunsch nach weiterem interdisziplinärem Austausch. Zum Abschluss wies Herr Dr. Mönter auf die einmal jährlich stattfindenden psychiatrisch-religionswissenschaftlichen Colloquien hin.

Das nächste Colloquium, das sich dieses Mal vorrangig mit dem Islam beschäftigt, findet am 10.11.2010 im Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität statt.
Das Programm des Colloquiums finden Sie hier (pdf).

(Autor: Dr. Norbert Hümbs)

› zurück