Religiöse Rituale, religiöse Musik und ihre psychotherapeutische Wirkung

Bericht vom 12. Berliner Psychiatrisch-religionswissenschaftliche Colloquium

Am 17.11.21 veranstaltete der Arbeitskreis Psychiatrie & Religion des Vereins für Psychiatrie und seelische Gesundheit (vpsg) nun schon zum 12. Mal das Berliner psychiatrisch-religionswissenschaftliche Colloquium.
Wie in den Vorjahren fand das Colloquium in Kooperation mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité CM und dem Religionswissenschaftlichen Institut der Freien Universität wieder im großen Hörsaal der Freien Universität Berlin statt. Der AK R&P führt Psychiatrie-Professionelle aus Praxis und Wissenschaft (auch aus der Seelsorge) wie
Betroffene und Angehörige psychisch Erkrankter und auch Religionswissenschaftler unter der Vorgabe eines „Polyloges“ zusammen. Eine religionsübergreifende, wechselseitig wertschätzende Themen- und Problembearbeitung bildet die Basis der Zusammenarbeit.
Zielsetzung des AK R&P ist es, die Sensibilisierung und Kundigmachung der „Psycho-Professionellen und eine religions- und kultursensible psychiatrische Behandlung auf allen Versorgungsebenen zu befördern. Ressourcen und Gefahren, wie sie mit individueller religiöser Orientierung verknüpft sind, soll fachkundig diskutiert werden.

Das jährliche Berliner Psychiatrisch-religionswissenschaftliche Colloquium thematisierte bislang u.a. Überschneidungsbereiche von Religion und Psychiatrie/ Psychotherapie wie z.B.

> „Seelische Gesundheit aus der Perspektive der Psychiatrie in einer Zeit transkultureller Globalisierung“
> „Außergewöhnliche psychische Zustände und religiös fundierte Heilmethoden in vormodernen Kulturen und in der aktuellen Psychiatrie“
> „Religiöse Orientierung in der Adoleszenz – Gefahr und Ressource für die psychischer Stabilität“
> „Sexualität und Religion- Problemfeld, Tabu und Ressource“
.

Über die Colloquien hinaus hat der AK R&S von 2013 bis Anfang 2019 mit dem von der Lottostiftung Berlin teil-finanzierten PIRA-Projekt (Psychiatrie-Information-Religion-Austausch) Informationsveranstaltungen und Beratungen vor allem in muslimischen Gemeinden realisiert.
Das Thema des 12. Colloquiums lautete „Religiöse Rituale, religiöse Musik und ihre psychotherapeutische Wirkung.“ Die Veranstalter zählten beachtliche 80 Anmeldungen, bedingt durch eine kurzfristige Umstellung der Teilnahme-Modalität auf 2G+ dann jedoch leider nur etwa halb so viel Teilnehmer.

Dr. Norbert Mönter, Mitbegründer des Colloquiums, führte mit dem Hinweis, dass Rituale u.a. anthropologische, religiöse resp. religionswissenschaftliche und eben auch therapeutische Fragen berühren, in das Thema ein. Rituale seien auch neurobiologisch von Interesse und menschheitsgeschichtlich stellten sie ein sehr frühes Phänomen dar und seien selbst bei unseren Artverwandten, den Schimpansen, bekannt.
Nach Jürgen Habermas zählten Rituale zum „Sakralen Komplex“ der frühen Menschen; erst später fanden Rituale mit den Religionen ihre inhaltliche Begründung, ihr Narrativ und natürlich auch ihre immer weiter entwickelte Ausformung . Geboren sind Rituale wohl vorallem aus der kollektiven existentiellen Not und allgegenwärtigen Bedrohung sowie der Konfrontation mit dem Tod und so finden sich Rituale an den großen Schicksals- und Wendepunkten des Lebens, bei Geburt, beim Erwachsenwerden, bei Heirat, Familiengründung und bei Tod in allen Gesellschaften und Religionen.

Der Beitrag von Prof. Susanne Gödde vom gastgebenden Institut für Religionswissenschaft der FU Berlin, befasste sich dann mit den Berührungspunkten zwischen Medizin und Religion in der griechischen Antike. Gefragt wurde, inwieweit die strikte Trennung zwischen einer ‚magischen‘ Tempelmedizin und der sich im Corpus Hippokratikum abzeichnenden‚ wissenschaftlichen’ Medizin aufrecht zu erhalten ist. Der Vortrag konzentrierte sich vor allem auf Beispiele von Heilung in den Kulten des Heilgottes Asklepios, in dem Patienten ihre Genesung während eines Traums – durch ein Inkubations-Ritual – erfuhren.
Heilungsberichte auf Stelen im Heiligtum von Epidauros zeugen von den wundersamen Ergebnissen dieser Therapieform, deren medizinische Logik uns heute weitgehend verschlossen bleiben muss. Eine Wasser-Schock-Therapie durch Asklepios, von der Aelius Aristides im 2. Jh. n. Chr. berichtet, wurde von vielen Teilnehmer*innen als aus heutiger Perspektive nicht völlig irrational betrachtet: Der Gott setzt seinen Patienten einem Sturm zu Schiff aus, um die Körpersäfte in Aufruhr zu bringen, und empfiehlt zusätzlich, das Kentern mit einem kleinen Kahn zu inszenieren – offenbar eine günstige Voraussetzung für die Heilung.
Im zweiten Teil des Vortrags ging Susanne Gödde auf die Heilangebote umherziehender Wanderprediger ein, die für sich beanspruchten, ihre Klienten von psychischem Leid zu befreien. Dies geschah durch Opfer, Reinigungen, aber auch durch Musik und Tanz, und zwar in einer Intensität, für die Platon und Aristoteles bisweilen die Begrifflichkeiten des dionysischen Wahnsinns, der mania, verwenden. Dieses Modell ähnelt demjenigen, das im Hintergrund der katharsis-Theorie des Aristoteles steht, nach der die Tragödien im Theater die Affekte der Zuschauer zunächst steigern und im selben Zuge auch wieder beruhigen.
Der kurze Überblick und die Beispiele der auf die antike spezialisierten Religionswissenschaftlerin führte zu vielen interessierten Nachfragen und einer spannenden Diskussion über den auch therapeutischen Wert des „Nicht –Rationalen“.

Frau Prof. Dr. Christine Funk von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin behandelte im Schwerpunkt ihres Beitrags zur Kultur / Soziologie des Rituals in den Religionen das zentralen Ritual in der christlichen Religion: die als Abendmahl oder Eucharistiefeier in den verschiedenen kirchlichen Traditionen mit unterschiedlichen Sinngebungen ausgedeutete Mahlzeit, elementarisiert in Brot und Wein. In einem kurzen biblischen Rückblick zeigte sie, dass Essen und Trinken in allen Teilen der Bibel als heilsbedeutsam für „Leib und Seele“ aufgefasst wird.
In der Neuzeit, in der Zeit der kirchlichen Pluralisierung, wurden durch Lieder, die zunehmend von den Gläubigen in den Gottesdiensten und zur privaten Andacht gesungen wurden (und werden), das religiöse Expertentum gewissermaßen von den Gläubigen verinnerlicht. Indem mit den Liedern die Glaubensinhalte von Gläubigen (in den Muttersprachen, als Folge von Martin Luthers Bibelübersetzung) individualisiert angeeignet werden, werden die gemeinschaftlichen Rituale wie die gottesdienstlichen Liturgien von der singenden Gemeinde mitgetragen, was in den Kirchen der Reformation mit dem veränderten Ritual-Verständnis des Pfarrers, einherging. Im Singen an der Heilsbedeutung des Glaubens und der in ihm wirkenden „Gottverbundenheit“ (Gnade) zu partizipieren, ist ein Prozess der Selbstwirksamkeit. Diese wirkt nicht nur nach „innen“, im Menschen selbst, sondern berührt die Konstruktion der Wirklichkeit durch fühlen, denken, sprechen, tun insgesamt. Somit könne der Anspruch der christlichen Religion geradezu als „therapeutisch“ aufgefasst werden: „Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus“ (Mt 10,8). Religöse Rituale, Musik und herapeutische Rituale gehören – so Christine Funk – offenbar aufs engste zusammen.

Dr. Dipl. Psych. Mohammad Tabatabai, aufgewachsen in Isfahan (Iran) und seit Jahren niedergelassen als Psychotherapeut in Wiesbaden, beschloss die Vortragsreihe mit einem konsequent die Ressourcen des Patienten beachtenden therapeutischen Blick auf die Funktion von Ritualen und Musik ab. Er stellte die in Bewegung, Ritual, Tanz und Musik wirkende enorme Ausdruckskraft von Gefühlen und Beziehungen sowie die damit einhergehende Sinnstiftungsfunktion in den Mittelpunkt seiner Ausführungen; in der Psychotherapie wie auch in der Spiritualität resp. im religiösen Kontext gehe es zudem um das Über-sich-hinaus-Denken und eine Auseinandersetzung des Menschen mit dem Sein und der Wertfrage. Die Anwendung der Rituale in der psychotherapeutischen Arbeit können u.a. folgende Faktoren zur Entfaltung bringen: Hoffnung, Findung von Sinnhaftigkeit, Entwicklung einer positiven Veränderungserwartung und Eigenaktivierung. Im Trauerprozess tragen Rituale wesentlich zur Verarbeitung von Abschied und Verlust bei, öffnen das Erleben für die Zeitdimension, in der wir alle leben.

Tabatabai zeigte die heilende Funktion der Musik auf anhand von Beispielen aus dem Orient mit der Sufi-Lehre wie auch des fernen Ostens mit der tibetischen Trommel-Ritualmusik oder auch der im Atem sich manifestierenden Dynamik von Stille und Bewegung z.B. des Zen-Buddhismus. Stille und Ruhe wie rhythmische Bewegung und Musik bezeichnet Tabatabai als polare Aktionen zwischen Kontrolle und Spontanität allerdings mit ähnlicher Zielsetzung. Zusammenfassend sieht er in der westlichen Welt eine prägend rationale Betrachtungsweise im Vordergrund und Vernunft als ein Bewusstseinsquelle des Handelns, während in den östliche Weltanschauungen stärker die Ansicht vorherrscht, dass das menschliche Leben in Bereichen stattfindet, von denen wir mit unseren physischen Augen wenig sehen und wenig davon erfahren können. Musik stelle vielleicht ein Ritual und eine Brücke dar zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren; zusammen mit anderen Ritualen und Zeremonien diene sie der Integration vom Körperlichen und Seelischen und Geistigen im Menschen.

In der ausführlichen, sehr angeregten Diskussion wurden viele Vortragsaspekte vertieft mit Beiträgen u.a. über das stark ritualisiert praktizierte Judentum, die bemerkenswerte Aktualität der Rituale der Antike, das christliche Sakramentum mit seiner Symbolik, Gedanken zur Bedeutung der Bach‘schen Musik und der Einführung des Gesanges in den Gottesdienst, musik- und tanztherapeutische Konzepte bis hin zu Parallelisierungen zwischen der Sufi- Philosophie und dem Jazz insbesondere der religiösen Gospel-Musik im Civil rights movement der USA und nicht zuletzt dem immer wieder durchscheinenden psychotherapeutischen Effekten von Ritual und Musik. Rituale, Musik und die Rhythmisierung sollten in ihrer anthropologischen wie therapeutischen Dimension gesehen werden. Nach über 3 Stunden fand das Colloquium beim traditionellen Abschluss-Buffet dann mit den Gesprächen in kleinen Runden seinen Ausklang.

Dr. Norbert Mönter

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