Vor vollem Haus und mit über 120 Teilnehmern aus den Bereichen der ambulanten und stationären psychiatrischen Versorgung, mit Vertretern von Krankenkassen und unter Beteiligung von Betroffenen und Angehörigen psychisch Kranker fand im Seminaris Conference-Center in Berlin Dahlem am 17./18. Juni 2011 die Fachtagung des Vereins für Psychiatrie und seelische Gesundheit (vpsg) in Kooperation mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charite Campus Mitte statt. Auf dem Boden einer traditionell sehr guten Zusammenarbeit des vpsg mit dem Berufsverband nahmen auch sehr viele BVDN- und BVDP Mitglieder aktiv an der Tagungsgestaltung teil.
Das vollständige Tagungsprogramm finden Sie » hier (pdf).
In seinen Begrüßungsworten erinnerte der 1. Vorsitzende des Vereins für Psychiatrie und seelische Gesundheit Herr Dr. N. Mönter an die erste vom vpsg organisierte Tagung zu diesem Thema und berichtete über die dynamische Entwicklung des Projektes: den Aufbau eines Versorgungsnetzes aus Ärzten, Soziotherapeuten und Pflegediensten, die Gründung einer Managementgesellschaft, die Ausweitung nach Brandenburg und – ganz neu – die Entwicklung einer IT-Plattform. Anschließend skizzierte er die zukünftigen Perspektiven u.a. die vor dem Abschluß stehenden Vertragsverhandlungen mit der AOK sowie eine mit mehreren KK diskutierte „IV zur Frühintervention bei psychisch bedingter AU“ .
In seinem Einführungsvortrag beschäftigte sich Prof. A. Heinz, langjähriges Mitglied des vpsg und nachhaltiger Befürworter einer Ambulantisierung der psychiatrischen Versorgung, mit gesundheitsökonomischen und ethischen Implikationen der Integrierten Versorgungsverträge. Er äußerte auch die Sorge, dass durch Selektivverträge eingesparte Gelder der Krankenversorgung speziell der Gruppe der psychisch Kranken entzogen werden könnten.
Herr Prof. Peter Falkai, amtierender DGPPN-Präsident, wandte sich in seinem Vortrag der wichtigen Frage „Wer soll koordinieren, führen, verantworten?“ zu.
In einer Analyse der Versorgungssituation stellte er den typischen Verlauf psychischer Erkrankungen mit dem je nach Krankheitsstadium unterschiedlichen Behandlungsbedarf vor. Zum Ist-Zustand der psychiatrischen Versorgung wies er auf folgende Probleme hin: die steigende Prävalenz psychischer Erkrankungen, die Probleme der Vernetzung und die Schnittstellen zwischen Hausärzten und Fachärzten sowie zwischen ambulanter und stationärer Behandlung, die fehlende häusliche psychiatrische Krankenpflege, den Mangel an Psychotherapie und die Schwierigkeiten, die durch die Verschiedenheit der Kostenträger entstehen.
Modelle der Integrierten Versorgung mit einer kontinuierlichen, das Schnittstellenmanagement verbesserten und einer standardisierten, leitlinienorientierten Diagnostik und Therapie können seiner Meinung nach dazu beitragen, die Drehtürpsychiatrie zu überwinden. Dabei seien die sich unterscheidenden Zielparameter der integrierten Versorgung sowohl aus Sicht der Nutzer, der Leistungserbringer und der Kostenträger zu definieren. Er stellte verschiedene existierende IV-Verträge vor, insbesondere das Rahmenkonzept der DGPPN zur Integrierten Versorgung Depression und ging auf auch auf den AOK-Vertrag zur Schizophrenie-Versorgung in Niedersachsen kritisch ein. Hierbei problematisierte er den fehlenden Einbezug der Kliniken, den nicht gesicherten Erhalt der freien Arztwahl und die Frage der Abgabe des Morbiditätsrisikos durch die Krankenkassen. Insgesamt sieht Professor Falkai die Integrierte Versorgung als lernendes System auf dem Weg zu einer flächendeckenden Umsetzung. Entscheidend für die Frage der Steuerungsübernahme in der IV sei nicht eine spezielle Institutionsprävalenz, sondern an erster Stelle das fachlich ausgewiesene Engagement der regionalen Initiatoren. Für die aktuelle Tagung wie auch die über Jahre hinweg kontinuierliche integrierende Arbeit des vpsg zollte der DGPPN-Präsident ausdrücklich Anerkennung.
Nach einer Kaffeepause wurde die Tagung in zwei Parallelveranstaltungen fortgesetzt.
Dabei lag der Schwerpunkt der von Frau Dr. B. Bollmann moderierten Veranstaltung auf Fragen der Einbeziehung von Betroffenen und Angehörigen in die Behandlung. PD Dr. J. Bäuml stellte Untersuchungen vor, die die Bedeutung von Psychoedukation und Empowerment für Patienten und Angehörige belegen.
Frau G. Schliebener und Herr U. Wegener-Drasdo sprachen aus Betroffenen- und Angehörigensicht über die Bedeutung partizipativer Entscheidungsfindung.
In der parallel von Frau Dr. K.-M. Hoffmann geleiteten Sitzung standen dagegen Fragen des Versorgungsmanagements im Vordergrund.
Frau Dr. A. Berghöfer vom Institut für Sozialmedizin der Charite stellte die Ergebnisse der Evaluierung der Integrierten Versorgung in Niedersachsen und Berlin vor. Dabei konnte sie einen Trend zur Kosteneinsparung bei Patienten mit Schizophrenie feststellen, der im wesentlich durch Krankenhaus-vermeidung/-ersetzung zu erreichen war. Die Kostenersparnis wird allerdings teilweise durch die Zunahme der ambulanten Kosten (z.B. vermehrter Einsatz häuslicher psychiatrischer Pflege) aufgewogen. Hier war die IV in Berlin kostengünstiger als in Niedersachsen durch synergistische Effekte von amb. psychiatrischer Pflege plus Soziotherapie, während in Niedersachsen wegen der geringen Verfügbarkeit von Soziotherapie vermehrt psychiatrische Pflege zum Einsatz gekommen ist. Die IV bei der Diagnose Depression erwies sich dagegen weniger kosteneffektiv.
Frau S. Negenborn als Vertragsmanagerin der DAK und Herr C. Traupe, Leiter des Unternehmensbereiches Versorgung, Strategie und Programme der AOK Nordost betonten das Interesse ihrer Krankenkassen an der Weiterentwicklung der Integrierten Versorgung mit dem vpsg resp. seiner Managementgesellschaft PIBB „Psychiatrie Initiative Berlin Brandenburg“. Dabei wird von Seiten der DAK eine stärkere Einbeziehung des Versorgungsmanagements der Kasse bei der Einsteuerung der Patienten in die Behandlung angestrebt. Für die AOK wurden Erwartungen an eine schlanke Dokumentation und Kommunikation geäußert, die zu einer Weiterentwicklung und Verbesserung zukünftiger Versorgungsmodelle führen könnten.
Schließlich stellte Dr. A. Alscher eine im Auftrag der PIBB erstellte IT-Plattform zur just-in-time Koordination und Kommunikation im Leistungserbringer-Netzwerk vor, die seit dem 1.7.2011 im Rahmen der IV durch die PIBB eingesetzt wird.
Nach einer sehr lebhaften, in Teilen kontroversen, aber durchweg konstruktiven Podiums- und Abschlußdiskussion, die von Prof. Heinz unter der Überschrift „Wer steuert die IV und wohin?“ moderiert wurde, klang der erste Tag – bei noch ausreichend sommerlichen Temperaturen – mit einem Dinner-Buffet im Innenhof des Seminaris Hotels gemütlich aus.
Der zweite Tagungstag begann – in einem mit rund 90 Teilnehmern wieder gut gefüllten Saal – mit einer von Frau A. Navarro-Urena und Herrn Prof. J. Galinat moderierten klinisch-orientierten Veranstaltung.
Frau Dr. M. Lautenschlager sprach dabei über das Thema. „Gemeinsame Entscheidungsfindung – Anspruch und Realisierungsmöglichkeiten“.
Beim Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung geht es demnach nicht allein um die Frage, ob und welche Medikamente genommen werden. Vielmehr ist das Ziel, dass sich der Patient seine grundsätzliche Wahlfreiheit auch in Alltagssituationen bewusst macht, mit dem Ergebnis eines Zugewinns an Freiheit – und auch Selbstverantwortlichkeit.
Im Hinblick auf die medizinische Behandlung sollen nicht nur therapeutische und pharmakologische Grundlagen vermittelt werden, sondern eine Fähigkeit zur Problemanalyse und -lösung, womit eine Stärkung des Selbstvertrauens verbunden ist. Wie viel medizinische und pharmakologische Information der Arzt dem Patienten geben soll, hängt u.a. vom Grad der Vorinformiertheit des Patienten und von seiner aktuellen Aufnahmefähigkeit ab.
Insofern sind die Informationsvermittlung und die gemeinsame Entscheidungs-findung als ein fortlaufender Prozess innerhalb einer therapeutischen Beziehung zu verstehen.
Beim anschließenden Vortrag über die S3-Leitlinie bipolarer Störungen und einen typischen Behandlungspfad in der IV wurde Frau Prof. A. Pfennig, die kurzfristig absagen musste, dankenswerterweise von Herrn Prof. Hellweg aus der Psychiatrischen Klinik der Charite vertreten. In seinem Vortrag gab er einen fundierten Überblick über den aktuellen Stand der Diagnostik und Therapie affektiver Erkrankungen und ging sowohl auf die Entwicklung der aktuellen S3 LL und vorbekannte internationaler Leitlinien ein.
Nach einer Kaffeepause fanden sechs Workshops zu verschiedenen Themen statt wie: Flexibililierung und Ambulantisierung der Klinik, Nutzen und Risiken der digitalen Vernetzung in der IV, verschiedene Einsatzfelder der Psychoedukation, gemeinsame Entscheidungsfindung,. Auswirkungen von Investoreninteresse auf die ärztliche Entscheidungsfreiheit.
Abschließend wurden die Ergebnisse der Arbeitsgruppen im Plenum vorgetragen.
Im Schlusswort bedankte sich Herr Dr. N. Mönter bei den Vortragenden und Teilnehmern für ihr Interesse und Engagement. Dadurch sei ein Austausch über Versorgungsfragen aus unterschiedlichen Perspektiven auf hohem Niveau zu Stande gekommen. Die Teilnahme von aktiven „Netzwerkern“ aus so zahlreichen anderen Bundesländern an der Tagung belege auch das große bundesweite Interesse an integrierten Versorgungsmodellen in der Psychiatrie. Die Entwicklung gehe rasch weiter und schon innerhalb eines Jahres werde sich die Diskussioin nach aller Erfahrung schon wieder auf neuem Entwicklungsniveau darstellen.
(Autor: Dr. N. Hümbs)
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