7. Berliner psychiatrisch-religionswissenschaftliche Colloquium

Am Mittwoch dem 18.11.2015 fand das 7. Berliner psychiatrisch-religionswissenschaftliche Colloquium des AK „Religion und Psychiatrie“ des Vereins für Psychiatrie und seelische Gesundheit statt – erstmals im Großen Hörsaal der Holzlaube der Freien Universität.
Das Thema „Religiöse Orientierung in der Adoleszenz – Gefahr und Ressource psychischer Stabilität“ fand offenkundig große Resonanz; knapp 80 Teilnehmer kamen in den architektonisch interessanten Neubau der FU am Rudi Dutschke-Weg.
Herr Dr. Mönter begrüßte die Teilnehmer, skizzierte Hintergrund und Aufgabenstellung des Colloquiums und führte auch in das Thema der der Veranstaltung ein.

Als erster Referent sprach dann Prof. Dr. Gunther Klosinski, Kinder- und Jugendpsychiater aus Tübingen zum Thema „ Psychologische und psychiatrische Hintergründe religiöser Konversion und Über-Identifizierung“. Dabei ging er zunächst auf zurückliegende Beispiele der Attraktivität von sektenartigen Bewegungen ein und verknüpfte dieses Phänomen mit der aktuellen Frage, was macht es für bestimmte Jugendliche derzeit so attraktiv, sich einer Gruppierung wie dem IS anzuschließen.
Nach seiner Auffassung entspricht die Hinwendung zur radikalen Religionsvorstellung des IS in wesentlichen Punkten einer religiösen Konversion.

Dazu stellte er 6 Thesen zu den psychologischen und soziologischen Ursachen auf:

  1. als prädisponierende Faktoren liegen oft psychische Konfliktsituationen vor wie Identitätskrisen oder Stress in den persönlichen Lebensumständen, die durch die Konversion eine gewisse Lösung erfahren.
  2. von wesentlicher Bedeutung ist der Kontakt oder der Aufbau persönlicher Beziehungen zu Sektenmitgliedern, besonders bei starker persönlicher Angewiesenheit auf Bindung.
  3. obwohl eine Konversion psychodynamisch eine Regression bedeuten kann, kann sie gleichzeitig in progressiver Weise zu einer Stabilisierung und einer inneren Integration führen.
  4. der Führer verkörpert ein rettendes Prinzip, eine Ideologie, ein Programm und man wird Mitglied einer rettenden Familie. Dazu kommen der Wunsch nach Selbstverwirklichung und das Gefühl gebraucht zu werden.
  5. Sekten stellen in geschickter Weise spezifische Angebote zu Verfügung für Menschen mit einer entsprechenden Persönlichkeitsstruktur und in einer der typischen Konfliktsituationen.
  6. mystische oder dissoziative Erlebniszustände fallen oft mit der Konversionserfahrung zusammen und vermitteln ein intensives Gefühl von Evidenz. Aus einem Suchenden wird jemand, der gefunden hat.

Im Anschluss an den Vortrag berichtete Frau Pinar Cetin aus dem Vorstand der Sehitlik-Moschee-Gemeinde über ihre Arbeit in der Bahira-Beratungsstelle gegen Extremismus. Sie berät und betreut dort Angehörige radikalisierter Jugendlicher und aus Syrien heimkehrende Dschihadisten.
Sie stellte zunächst fest, dass es sich um eine inhomogene Gruppe handelt, die aber bestimmte Gemeinsamkeiten aufweist wie geringe familiäre und soziale Integration, wenig Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft, eine unsichere soziale und religiöse Identität; oftmals fehle ein Vater oder es finde sich ein sehr autoritärer Vater.
Aus vielen Enttäuschungserfahrungen entstehen dabei eine negative Einstellung gegenüber Schule und Demokratie und gewaltaffine Haltungen mit ausdrücklicher Legitimierung von Gewalt. So erleben sich moslimische Jugendliche als Außenseiter und fühlen sich von radikalen Gruppen angesprochen, verstanden und aufgenommen, die ebenfalls Außenseiter sind. Hier erleben sie Geborgenheit, haben das Gefühl an einer Aufgabe – der Durchsetzung von wahrer Gerechtigkeit – teilzunehmen, was ihnen ein Gefühl von persönlicher Bedeutung verleiht. Dort finden sie eine klare Orientierung und treffen auf charismatische Führer.

Bei der Arbeit ist zu hinterfragen, was der persönliche Auslöser einer solchen Entwicklung ist. Oft handelt es sich um Ablösungsprozesse in der Pubertät oder Auflehnung gegen das Elternhaus besonders den Vater.
Die Radikalisierung erfolge eher selten über die Moschee, eher über die Gleichaltrigengruppe, über Jugendclubs, das Fitness Studio oder während eines Gefängnisaufenthaltes. Bei Mädchen finde die Radikalisierung eher leiser und unauffälliger statt, meist über das Internet.
Die Arbeit in der Beratungsstelle erfolgt auf verschiedenen Ebenen: Beschäftigung mit der eigenen Biographie, Einbezug der Familien als letzter Anker zur normalen Welt, aber auch in Form einer Auseinandersetzung über Koraninhalte. Es geht darum, Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu wecken und Unsicherheiten im eigenen Standpunkt ertragen zu lernen. Wichtig sind neue Beziehungen zu finden und eine eigene Lebensperspektive zu entwickeln, wozu Schule und Ausbildung gehören können. Auch die Mitgliedschaft in Sportvereinen kann zu wichtigen Erfolgserlebnissen verhelfen.

Als letzter Vortragende sprach Dr. Helmuth Jansen, Jugendseelsorger, Geistlicher Leiter im Vorstand des BDKJ (Bund der Deutschen Katholischen Jugend) über „ Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstorganisation als Kriterien einer pro-vokativen Jugendseelsorge“.
Er zitierte den Bibelvers (Joh 5,6) „Steh auf, nimm deine Bahre und geh nach Hause“, in dem auf die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen verwiesen werde. Die freie und nicht manipulativ indoktrinierte Entscheidung des Jugendlichen wird als Zielvorstellung formuliert.
In der anschließenden von Dr. Hans Willner, Chefarzt, FA für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, St. Joseph-Krankenhaus Berlin Tempelhof, geleiteten Diskussion wurde auf die häufig stattgefundenen Traumatisierungen muslimischer Jugendlicher und die damit verbunden psychischen Folgen hingewiesen. Viele der aus den Kriegsgebieten stammenden Kinder und Jugendlichen werden zukünftig psychiatrischer und psychotherapeutischer Hilfe bedürfen, um die dort gemachten Erfahrungen bewältigen zu können.
Zum Abschluss stellten Herr Dr. Mönter und Frau Hadice Ayhan das von der Lotto-Stiftung Berlin finanzierte VPsG-Beratungsprojekt „Psychiatrie-Info- und Beratung im religiös- gemeindlichen Kontext“ vor, das im Januar 2016 in der Shehitlik – Moschee beginnen wird. Im Verlauf der folgenden Monate wird das Projekt auf andere Gemeinden ausgeweitet.
Das Colloquium fand seinen gewohnten, diesmal besonders lange und intensiv geführten Austausch beim abschließenden kleinen Imbiss.

(Autor: Dr. Norbert Hümbs)

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